Hartz-4-Urteil des Bundesverfassungsgerichts - Sanktion ist Kapitulation

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-4-Sanktionen entbrennt politischer Streit um die richtigen Schlüsse. Die einen wollen Sanktionen ganz abschaffen, die anderen sehen sie als wichtiges Mittel. Beide Seiten liegen falsch. Denn wir können es uns nicht mehr leisten zu scheitern

Karlsruhe hat gesprochen, wieder mal / picture alliance
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Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Es mag ein wenig gedauert haben, bis gestern verstanden worden war, was das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe da zu den Sanktionen für Hartz-4-Bezieher geurteilt hatte. So twitterte die Kandidatin um den SPD-Vorsitz, Saskia Esken: „Heute macht das Urteil des #BVerfG nochmal deutlich, dass die Leistungen nicht sanktioniert werden dürfen!“ Es mag am schnellen Medium gelegen haben oder einem später auch eingeräumtem Missverständnis. Aber Fakt ist: Die Richter in Karlsruhe haben vor allem geurteilt: Der Gesetzgeber „kann erwerbsfähigen Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II auch zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen, und er darf die Verletzung solcher Pflichten sanktionieren, indem er vorübergehend staatliche Leistungen entzieht.“

Nur für einen sehr kleinen Teil der Betroffenen ändert sich also etwas. Jene knapp mehr als 10 Prozent der Bezieher dürfen künftig nicht mehr mit Kürzungen der Leistungen von mehr als 30 Prozent belegt werden. Dies erklärten die Richter „für mit dem Grundgesetz unvereinbar“. Auch müsse es den Betroffenen möglich sein, die Leistung nach einer Minderung wieder zu erhalten. Für den überwiegenden Teil der Bezieher von ALG II aber bleibt alles beim Alten. Insbesondere bei den unter 25-Jährigen, für die ohnehin ein noch strengeres Sanktionsregime gilt. Hierzu urteilten die Richter ausdrücklich nicht.

Ein politisches Beben

Angesichts der geringen Zahl der vom Urteil Betroffenen, mag das Karlsruher Urteil zunächst also gar nicht als so schwerwiegend erscheinen. Doch mehr als 15 Jahre, nachdem die Hartz-4-Reformen unter Rot-Grün eingeführt wurden, spürt  man, wie die SPD ihr Schröder-Trauma endlich glaubt, überwinden zu können. Sie ergeht sich, ganz nach Saskia Eskens Missverständnis, bereits darin, die Sanktionsmöglichkeiten nun ganz abzuschaffen. Der Wunsch ist verständlich, hat das Trauma seiner Zeit doch zur Spaltung der SPD geführt und zu einem Zusammenschluss von WASG und PDS zur heutigen Linkspartei, mit der bis heute auf Bundesebene nicht koaliert wurde. Im Grunde führte dieser sozialdemokratische Mehrheits- und Alternativmangel zur Bildung der ersten, zweiten und dritten Großen Koalition unter Angela Merkel. Und schließlich entstand in die Groko-Ära dann die AfD, die heute wiederum droht, die CDU zu spalten.

Es erscheint also durchaus möglich, dass eine immer bedeutungslosere SPD nun die womöglich letzte Gunst der Stunde ergreifen will, um ihr sozialdemokratisches Profil zu schärfen – ähnlich wie bei ihrem Beharren auf einer Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung. Durch das Erheben von Maximalforderungen aber droht eine politisch-gesellschaftliche Spaltung. Auf der einen Seite SPD, Grüne und Linke, die sich ein komplettes Ende der Sanktionen wünschen, aber derzeit keine Mehrheit haben. Auf der anderen Seite die Union, die FPD und die AfD, die von Sanktionen derzeit keinen Abstand nehmen wollen, die aber zumindest bislang ebenfalls keine Mehrheit bilden können oder wollen.

Ein unterschiedliches Menschenbild

Hinter den verschiedenen Positionen steht ein unterschiedliches Menschenbild. Während links eine womöglich naive Vorstellung herrscht, man könne nur ohne Zwang das Beste im Menschen hervorholen, regiert rechts die Ansicht, nur mit Härte könne man Menschen zurück auf den richtigen Weg bringen. Beides ist falsch. Denn politisch wäre es – gerade unter dem SPD-Buzzword „Gerechtigkeit“ kaum zu verkaufen, ein komplett sanktionsloses System zu installieren, bei dem jeder ohne Druck Sozialleistungen einfach so in Anspruch nehmen darf. Auf der anderen Seite bestätigen zahlreiche Studien seit Jahren, dass jene Form „schwarzer Pädagogik“, mittels Sanktionen ans Ziel zu kommen, ebenfalls so gut wie nie zum Erfolg führt. Das bemängelten auch die Karlsruher Richter.

Die Fragen, die sich daher alle Parteien stellen müssten: Können wir es uns angesichts einer sich immer weiter verschärfenden demografischen Entwicklung noch leisten, zu scheitern? Das sollten insbesondere jene verstehen, die noch immer glauben, ohne qualifizierte Zuwanderung, könnten wir unseren Lebensstandard halten. Sanktion ist Kapitulation, insbesondere dann, wenn sie nicht zum Ziel führt. Der Staat ist gescheitert, wenn er es nicht schafft, den Einzelnen wieder für sich selbst und damit für die Gesellschaft sorgen zu lassen. Das ist nicht mehr zeitgemäß.

Darum braucht es dringend neue Instrumente, die viel stärker den Einzelnen und seine Möglichkeiten fördern, bei denen Sanktionen nur das allerletzte Mittel sind. Die Arbeitsagenturen mögen zwar inzwischen seit Jahren nicht mehr Arbeitsämter heißen, aber sie verhalten sich oftmals noch immer so. Wer sich mit den sogenannten „Maßnahmen" einmal beschäftigt, die Menschen im Hartz-4-Bezug teils über sich ergehen lassen müssen, kann solche Leute nur ermutigen, sich diesen selbstbewusst zu entziehen. Das hundertste Bewerbungstraining, Mandalas ausmalen oder Murmelbahnen bauen, solche Maßnahmen grenzen an unfassbare Unverschämtheit – und vor allem bringen sie nichts. Weiterbildungen ohne Sinn, es gibt nach wie vor viel zu viele davon. Und viel zu viele profitieren davon.

Deutschland muss dazulernen

Längst liegen die Pläne in den Schubladen der Bundesministeriums für Arbeit, die Arbeitsagenturen zu Weiterqualifikationsagenturen umzubauen. Es ist Zeit, sie endlich herauszuholen. Denn es braucht einen mentalen Wandel, den die Politik viel aktiver und positiver gestalten muss. Lebenswege, die Schule, Ausbildung, Beruf und Rente bedeuten, werden immer seltener die Regel sein. Das macht vielen Menschen Angst, zurecht, denn sie sind nicht darauf vorbereitet. Sich anzupassen in einer immer schnelleren Welt ist insbesondere für ältere Menschen quälend. Unter Angst funktionieren wir aber nicht.

Darum muss es zur Normalität werden, dass der Staat mit dafür sorgt, dass Menschen jederzeit weiterlernen können unter hervorragenden Bedingungen. Politiker und Vertreter der Wirtschaft sprechen nur allzu gerne vom Kampf um die klügsten Köpfe. Dann muss aber auch alles dafür getan werden, dass jeder so klug werden kann, wie es ihm nur möglich ist. In die Bildung investieren, ist so ein Schlagwort, das inzwischen von allen Parteien kommt. Es muss nur endlich mit Leben gefüllt werden – und auch mit Geld. Darum bräuchte es nicht nur Autogipfel im Kanzleramt, sondern Bildungsgipfel.

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